Wir einsamen Wölfe: Macht Individualismus glücklich?

Unsere Gesellschaft wird immer freier und individualistischer. Aber macht das wirklich glücklich? Der Blick in die Wissenschaft zeigt: Ganz ohne eigenen „Stamm“ kommen wir Menschen nicht aus.

von Helena Pabst

Gerade in westlichen Gesellschaften hat der soziale und technologische Fortschritt dazu geführt, dass der Einzelne immer freier und unabhängiger leben kann. Individualismus und Selbstentfaltung gehören zu den zentralen Werten, die wir schon unseren Kindern vermitteln. Für die meisten Eltern ist es wichtig, ihre Kleinen zu unabhängigen Menschen zu erziehen, die sich frei entfalten, ihre persönlichen Stärken kennen und eigene Entscheidungen treffen. Im selbst dekorierten Kinderzimmer wachsen kleine Individualisten heran, die im Erwachsenenleben „ihr eigenes Ding“ machen möchten – häufig umziehen, viel reisen und Erfahrungen sammeln. Spätestens mit der „Generation Y“ sind die Effekte auf das soziale Leben sichtbar. Wir sammeln hunderte Facebook-Freunde, unzählige Ex-Beziehungen, Bekanntschaften und ehemalige Kollegen. Doch die engen Freunde aus der Kindheit, die Eltern und Vewandten lassen wir meistens zurück. Auch am aktuellen Wohnort fällt es schwer, ein enges soziales Netz aufzubauen, denn auf der Jagd nach Erfahrungen sind wir häufig verreist, wechseln regelmäßig die Jobs, die Wohnungen, die Partner und Freundeskreise.

Doch macht dieser Lebensstil wirklich glücklich? Wie so oft, ist das eine Frage der Balance. Untersuchungen zeigen aber: Die Bedeutung enger Beziehungen und einer starken Gemeinschaft wird häufig unterschätzt.

Glücksgeheimnis enge Beziehungen

In der bislang ausführlichsten Studie zum Thema Glück begleiteten Forscher der amerikanischen Harvard Universität ihre Probanden fast 80 Jahre lang und befragten sie regelmäßig zu Lebensstil und Wohlbefinden. Ihr Ergebnis: Der wichtigste Glücksfaktor sind enge Beziehungen. „Es sind enge Beziehungen, mehr als Geld oder Berühmtheit, die Menschen ihr Leben lang glücklich machen. Diese Bindungen schützen Menschen vor den Enttäuschungen des Lebens, verzögern mentalen und physischen Verfall und sind bessere Voraussetzungen für ein langes, glückliches Leben als die soziale Schicht, der IQ oder sogar die Gene“, schreibt die Harvard Gazette.

„Wir unterschätzen oft die Bedeutung unserer engsten Beziehungen und sozialen Bindungen für unser Wohlbefinden“, schreibt auch das Forschungsinstitut Gallup, das regelmäßig weltweite Erhebungen durchführt. Menschen mit einem hohen Grad an „Social Well-Being“ haben nach Definition der Forscher mehrere enge Beziehungen, die ihnen dabei helfen, Ziele zu erreichen, das Leben zu genießen und gesund zu bleiben. Also Bezugspersonen, die ihre Weiterentwicklung unterstützen, sie so akzeptieren wie sie sind und mit Respekt behandeln.

Wieso sind Beziehungen und Gemeinschaft so wichtig für das menschliche Wohlbefinden und sogar für die Gesundheit? Möglicherweise lässt sich dieser Effekt durch den Blick in unsere Geschichte begründen. Denn nach Ansicht von Evolutionspsychologen wurzelt das starke Bedürfnis nach Gemeinschaft in den menschlichen Ursprüngen – dem Leben als Jäger und Sammler.

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Unsere Steinzeit-Gehirne

Ähnlich wie unsere engsten Verwandten, die Schimpansen, lebten Menschen ursprünglich in Stämmen von etwa zwanzig bis fünfzig Personen, erläutert der Historiker Yuval Noah Harari in seinem Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Größere Gruppen ließen sich nicht zusammenhalten und zerfielen automatisch in neue Untergliederungen. Erst die Entwicklung der Sprache vor rund 70.000 Jahren erlaubte es Menschen, in Gruppen von bis zu 150 Individuen zusammenzuarbeiten. Diese 150 sei bis heute „die magische Grenze unserer natürlichen Organisationsfähigkeit“. Die Angehörigen einer solchen Gruppe „kannten einander bestens und waren ein Leben lang von Verwandten und Freunden umgeben. Einsamkeit und Privatsphäre waren weitgehend unbekannt.“

Erst mit der landwirtschaftlichen Revolution vor etwa 12.000 Jahren entstand die Sesshaftigkeit und damit auch die Anforderung, größere Gemeinschaften zusammenzuhalten. Durch die Erfindung gemeinsamer „Mythen“ wie Nationen, Konzernstrukturen und Gesetzen sei es Menschen schließlich gelungen, in sehr viel größeren Einheiten zu kooperieren. Im Vergleich zu hunderttausenden Jahren Anpassung an das Leben in kleinen Stämmen jedoch ein kurzer Zeitraum. Vertreter der Evolutionspsychologie gehen deshalb davon aus, dass unsere Gehirne, und damit unsere Bedürfnisse und Neigungen, bis heute primär durch die Zeit der Jäger und Sammler geprägt ist.

Sicher möchten die wenigsten von uns im Dienste unserer Steinzeit-Gehirne in Kleingruppen durch die Steppe ziehen, und auch die positiven Einflüsse des Fortschritts auf das menschliche Wohlbefinden sind nicht zu vernachlässigen. Dass beispielsweise die moderne Medizin die Kindersterblichkeit in den vergangenen zweihundert Jahren von 33 auf weniger als fünf Prozent senken konnte, ist sicher „ein gewaltiger Beitrag zum menschlichen Glück“, schreibt Harari. Doch es deutet einiges darauf hin, dass wir inzwischen Gefahr laufen, uns zu weit von den Bedürfnissen unserer Steinzeit-Gehirne zu entfernen.

Die digitale Entfremdung

Einer Studie zufolge hat die Zahl der Menschen, die enge Bezugspersonen haben, in den vergangenen 25 Jahren drastisch abgenommen. So habe das durchschnittliche Netzwerk an Vertrauenspersonen sich von 2,94 Menschen im Jahr 1985 auf 2,08 im Jahr 2004 reduziert, zitiert Stephen Marche im Atlantic. 25 Prozent der Befragten von 2004 hatten überhaupt niemanden, mit dem sie offen sprechen können und zwanzig Prozent nur eine Person. Stattdessen wächst das Heer an professionellen Helfern wie Psychotherapeuten, Pflegekräften oder Sozialarbeitern. Denn Einsamkeit kann ernsthafte gesundheitliche Folgen haben. Einsame Menschen machen Erhebungen zufolge weniger Sport, sind mit höherer Wahrscheinlichkeit übergewichtig, gehen früher ins Altersheim und überleben sogar mit geringerer Wahrscheinlichkeit ernsthafte Operationen.

Wie kann es sein, dass in Zeiten der permanenten Vernetzung Einsamkeit so weit verbreitet ist? Per Facebook, Whatsapp, Instagram und co. stehen wir im Dauerkontakt und kommunizieren mit zahllosen Menschen gleichzeitig. Permanent brummt das Handy und prasseln die Likes auf uns ein. Und doch bleibt das Glücksgefühl oft aus. Im Gegenteil: Studien zufolge verstärken soziale Netzwerke eher Gefühle von Einsamkeit und Niedergeschlagenheit. „Within this world of instant and absolute communication, unbounded by limits of time or space, we suffer from unprecedented alienation. We have never been more detached from one another, or lonelier. In a world consumed by ever more novel modes of socializing, we have less and less actual society“, so Marche.

Eine Begründung für diesen Effekt ist die Tatsache, dass die meisten Menschen sich auf Facebook oder Instagram nur von ihrer besten Seite zeigen. Die schönsten Urlaubsbilder, der Joberfolg, das lachende Baby – wer durch seinen Newsfeed scrollt, bekommt schnell das Gefühl, alle anderen hätten ein viel glücklicheres Leben. Im ehrlichen Gespräch wären vielleicht auch die Kakerlaken im Hotel, die unzähligen Überstunden oder die schlaflosen Nächte mit dem Neugeborenen zur Sprache gekommen. In der digitalen Selbstdarstellung existieren diese Seiten nicht. Während direkte, ehrliche Kommunikation auch auf digitalem Weg positive Emotionen erzeugt, scheint der passive Konsum von Social Media stark mit negativen Gefühlen assoziiert zu sein. Und die schiere Zeit am Bildschirm reduziert die Chance auf persönliche Begegnungen.

Wie du trotzdem dein Rudel findest

Wie gelingt es also, in Zeiten des digitalen Wandels enge Beziehungen aufrechtzuerhalten? Oder sogar das Gefühl von Gemeinschaft zu erzeugen?

Ob persönlich oder digital, in einer Zeit, in der es zu einfach ist, sich auf schöne Oberflächlichkeiten zu beschränken, ist der entscheidende Faktor vielleicht der Mut zu echter menschlicher Interaktion – inklusiver aller Schwierigkeiten, Unwägbarkeiten und Unannehmlichkeiten. Eine echte Freundschaft bedeutet nicht nur, fröhliche Selfies vor sonniger Großstadtkulisse zu schießen, sondern auch vorbeizufahren, wenn der Freund Schluss gemacht hat, egal wie viel attraktiver die Abendplanung war. Familie bedeutet auch, die sterbende Großmutter zu besuchen oder das schreiende Kind der Schwester zu hüten. Und Team heißt auch, anderen zu helfen, wenn es dem eigenen Fortkommen nicht dienlich ist. Entlohnt werden dann wir nicht nur mit dem Glücksgefühl, das es erzeugt, für andere da zu sein, sondern auch mit Bindungen, auf die wir uns verlassen können, wenn wir einmal darauf angewiesen sind. Wie wichtig es ist, sich beispielsweise in emotionalen Krisen die Dinge „von der Seele zu reden“, erläutert Psychologe Mark Goering in seinem Gastbeitrag.

So altmodisch es klingt, auch Engagement in der Nachbarschaft ist ein echter Faktor für das Wohbefinden. Gallup zufolge kann das „community well-being“ sogar den entscheidenden Unterschied machen „zwischen einem guten und einem großartigen Leben“. Gutes zu tun fördere die soziale Interaktion, ein Gefühl von Sinn und Zweck und einen aktiveren Lebensstil. Die konkrete Empfehlung der Forscher: Mach dir Gedanken, welche Themen dich persönlich bewegen und versuche herauszufinden, wie du dich in deinem Umfeld in dieser Richtung engagieren kannst; erzähle anderen davon, hol Empfehlungen ein und meld dich einfach an. „Selbst wenn du klein anfängst, fang einfach an.“ Und wenn keine Zeit zu sein scheint: Einfach mal alle Geräte abschalten und wundern, wieviel Luft plötzlich ist.

Das Gefühl, einem eng verbundenen Stamm von Jägern und Sammlern anzugehören, kannst du vielleicht nicht zurückrufen, aber auch wir modernen Nomaden können es schaffen, die nötige Portion Zugehörigkeitsgefühl in unser Leben zu bringen.

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(Bild: Jonas Verstuyft auf Unsplash)

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