Wie wir unsere Sexualität besser kennenlernen

Wie komme ich in Verbindung mit mir selbst und meiner eigenen Sexualität? Hier liest du, was unsere Sexualität ausmacht und wie sie unser Wohlbefinden beeinflussen kann.

von Gastautor Leonard Gabriel Heygster

Sexualität bewegt uns

Wir sollten über Sexualität sprechen. Wahrscheinlich stimmst du zu, wenn ich sage, dass Sexualität ein wichtiges Thema ist. Aber wie leicht fällt es dir, über die eigene Sexualität zu sprechen? Falls dir dieser Gedanke jetzt kurz Unbehagen bereitet haben sollte, möchte ich eines vorweg sagen: Damit bist du nicht alleine. Viele Menschen kostet es sogar Überwindung über die eigene Sexualität bloß nachzudenken. Oder sagen wir besser: In sich hineinzuspüren.

Vielleicht haben wir es sogar zuweilen insgesamt ein wenig verlernt, zu spüren. Nicht nur im sexuellen Sinne. Aber auch in diesem. „Dabei bewegt Sexualität alles“, sagt die Sexualtherapeutin und Bestseller-Autorin Ann-Marlene Henning im humansarehappy Podcast.

Dort erklärt sie nicht nur, wie sehr die eigene Sexualität das Erleben von Wohlbefinden beeinflusst, sondern auch, wie du es lernen kannst, dich selbst und damit die eigene Sexualität zu verstehen. Vor allem aber: Dich selbst zu spüren.

Sexualität beginnt im Kindesalter

Wie du Sexualität wahrnimmst, wird vor allem durch deine Fähigkeit bedingt, dich selbst zu spüren. Deinen eigenen Körper zu kennen. Das fange bereits im Kindesalter an, sagt Ann-Marlene Henning. In ihrer Erfahrung würden aber selbst viele Erwachsene ihren Körper nicht wirklich kennen.

Das sexuelle Skript, das jeder Mensch in seinem Kopf habe, entstehe dabei durch die Zufälle, die uns begegnen. Die Aussage, dass Sexualität sich bereits im Kindesalter entwickelt, sei aber dennoch für viele Menschen eine Provokation. Dabei haben Kinder sehr wohl eine eigene Sexualität. Gerade deshalb sei es vor allem im Kindesalter wichtig, den eigenen Körper kennenzulernen. Dazu brauchen Kinder im Übrigen keine Anleitung oder Impulse von außen. Die natürliche, menschliche Neugierde ist bei Kindern sowohl nach außen wie innen angelegt:

Die sind eigentlich am – jetzt sage ich ein böses Wort – masturbieren. Also die sind dabei, zu spüren: Wenn ich das mache, wird es toll. Und einige Kinder erreichen auch eine Art orgiastische Entladung.

Ein solches Verhalten kann man bereits bei Kindern im Windelalter beobachten. Einige nutzen es zur Beruhigung, zum Einschlafen oder um emotionalen Druck abzuladen, so Henning.

Nicht selten aber wird Kindern ein solches Verhalten „abtrainiert“, schlicht weil die Eltern oder Bezugspersonen nicht mit der kindlichen Sexualität umgehen können oder wollen. Das Kind lerne dann, die eigene Sexualität zu verstecken, warnt Ann-Marlene Henning. Es höre dann auf, sich selbst zu erforschen und entwickle ein großes Schamgefühl.

Im Erwachsenenalter ist in der Folge die eigene Sexualität dann vielen nur schwer zugänglich – und mit großer Scham behaftet. Vor allem aber sei das Verhältnis und das Feingefühl für den eigenen Körper, die eigene Sinnlichkeit und die eigenen Vorlieben irritiert.

Körper und Geist spielen immer zusammen

Um die eigene Sexualität zu verstehen, müssen wir im ersten Schritt begreifen, dass Menschen ganzheitliche Wesen sind. Das heißt, Kopf und Körper haben eine sehr starke Wechselwirkung aufeinander. Diesen Schluss legt übrigens schon die Bedeutung des Begriffes Individuum nahe: unteilbar.

Ähnlich verhält es sich auch mit der Sexualität: Wenn du negative Gedanken hast, spannt sich auch dein Körper an – andersherum genauso. Wenn du beispielsweise aufgrund negativer Gedanken den Beckenboden anspannst, ist es fast unmöglich, dich sexuell fallen zu lassen.

Wenn Menschen im Bett Probleme haben, sind sie hoch angespannt. (…) Es sind mehr Muskeln angespannt, dann spürt man weniger. Aber vor allem werden die Gedanken auch dunkler. Dann geht es in Richtung ‚Ich kann nicht.’ oder ‚Bei mit klappt’s nicht.‘

Vielleicht hast du selbst schon einmal die Erfahrung gemacht, in einem körperlich sehr angespannten Zustand (im Bett) weniger zu spüren?

Die eigene Sexualität verstehen

Um zu erklären, welche komplexen Einflussfaktoren auf das Erleben von Sexualität wirken, zieht Ann-Marlene Henning das Modell des Sexocorporels zurate. Es besteht aus vier Bereichen, metaphorisch nennt sie diese Bereiche im Interview Schubladen, die alle miteinander in Wechselwirkung stehen.

1. Der innere Zeigefinger

In dieser ersten Schublade liegen die inneren Überzeugungen, Wertungen, Mythen, religiöse Vorstellungen, Stereotypen, Klischees und inneren Glaubenssätze.

Gerade die festgefahrene Vorstellung von Geschlechterrollen liegt in dieser Schublade. So erlebt Ann-Marlene Henning in der Praxis immer wieder die Annahme, dass selbst in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung Geschlechterrollen existieren würden: „‚Wer von euch ist denn der Mann oder die Frau?‘ Eine unterirdische Frage, die häufig auf Unwissenheit basiert.“ Dabei merkt sie an: „Gleichgeschlechtliche Paare suchen weitaus weniger häufig sexualtherapeutische Unterstützung auf.“

Auch der Konsum von Pornos kann dieser Schublade stark prägen:

Es ist egal welcher Porno: Wir haben Spiegelneuronen und Spindelneuronen und die schreiben sich über Synapsenwege in unser sexuelles Skript ein.

2. Die Körperschublade

In dieser Schublade liegt alles, was den Körper betrifft. Ann-Marlene Henning macht klar:

Man kann die Körperschublade nicht ignorieren. Wenn man lebt, hat man einen Körper.

An einem Beispiel macht die Therapeutin das Zusammenspiel der Schubladen deutlich. Wenn man beispielsweise nur durch Vorstellungen erregt ist, z.B. durch das Hören eines Hörbuches, dann spielen die dritte Schublade (Wahrnehmung und Einordnung) und die zweite, körperliche Schublade zusammen:

Wenn man im Gehirn erregt ist, würde man in der Körperschublade erfahren, wie sich das ausdrückt. Bei querschnittsgelähmten Menschen würde man hier im Extremfall erfahren, dass man abwärts des Halses nicht im Körper spürt.

Um ein achtsames Verständnis für den eigenen Körper und die eigene Sexualität zu erlangen, rät Ann-Marlene Henning, dafür aufmerksam zu sein, was in sexuellen Situationen auf körperlicher Ebene alles passiert. Dafür brauche oft nicht einmal ein weiterer Mensch involviert sein.

Es helfe, alleine bei der Masturbation darauf zu achten, ob man sitzt oder liegt, wie man sich anfasst und wie genau sich das anfühlt. All das steigere die Achtsamkeit für die eigene Sexualität. Um deine Achtsamkeit für die eigene Körperwahrnehmung zu stärken, brauchst du allerdings nicht unbedingt einen sexuellen Kontext zu schaffen. Es hilft bereits, darauf zu achten, wie sich dein Körper in ganz alltäglichen Situationen anfühlt. Oder du kannst dir bewusst die Zeit für Reflexion nehmen, um deiner Sexualität mit Neugierde zu begegnen. Hier kann auch Meditation ein hilfreicher Weg sein.

3. Wahrnehmung und Einordnung

Wie im vorangegangenen Beispiel beschrieben, wird in der dritten Schublade das Zusammenspiel aus Geist und Körper deutlich. Hier nutzt Ann-Marlene Henning ein weiteres Beispiel:

Wenn ich streng religiös erzogen bin, wie liege ich im Bett und wo ist meine Scham?

Anschließend löst sie auf: „Hier haben wir in der ersten Schublade (innerer Zeigefinger) die religiöse Prägung. Sie beeinflusst, wie ich liege, ob ich entspannt bin oder verkrampft (Körpererfahren, zweite Schublade) Die Einordnung dessen (bspw. Scham) findet dann in der dritten Schublade statt.“

Weiter führt sie aus: „Es hat viel mit einem selbst zu tun. Es gibt Menschen die haben so viel Angst, sich zu öffnen und zu spüren, dass sie Sex als Bestätigung nutzen: Guck mal, die konnte ich einfangen, den konnte ich einfangen, wir waren wieder im Bett.“

Die Vorstellung, es muss immer mit Liebe zu tun haben, ist eine, die ich gerne killen würde.

4. Die Beziehung zu anderen

Erst in der vierten Schublade werden für das Erleben von Sexualität andere Menschen einbezogen. Hier äußert sich die Beziehungsfähigkeit zu anderen:

Wie sehr bin ich fähig, meine Vorstellung, Bedürfnisse, Wünsche oder Ängste nach außen zu kommunizieren und zu leben?

Dabei gehe es vor allem darum, emotionale Verknüpfungen eingehen zu können. Hier zeigt sich wieder die Relevanz von kindlichen Prägungen, im Erwachsenenalter eine gesunde Sexualität leben zu können:

Wenn wir über Sexualität sprechen und sexuelle Skripte, dann ist es ganz, ganz wichtig, welchen Körperkontakt und welchen emotionalen Kontakt du als Kind hattest. Ab Baby.

Wag was. Sag was.

Viele Menschen haben im Laufe ihres Lebens die Erfahrung gemacht, wegen ihrer Sexualität ausgelacht oder sogar bestraft zu werden. So haben sie möglicherweise bereits als Kind gelernt, sich zurückzuhalten. Das zieht sich dann bis ins Erwachsenenalter durch. Die Folge: Viele Menschen halten sich zurück, weil sie Spannung vermuten.

Ann-Marlene Henning plädiert in diesem Kontext für mehr Mut. Es gehe dabei vor allem darum, sich im ersten Schritt vor sich selbst zu trauen, mit der eigenen Sexualität in Verbindung zu kommen. Von dieser Basis aus könne man dann in die Kommunikation mit anderen treten. Ihr Wahrspruch dazu lautet: "Wag was. Sag was.“

Mit dir selbst in Verbindung sein

Was hier möglicherweise einfach klingt, kann jedoch sehr herausfordernd sein. Henning rät daher zu kleinen Schritten. Bevor du also beispielsweise kommunizierst, wie du angefasst werden möchtest, kannst du dich darin üben, andere persönliche Bedürfnisse zu äußern. Das können ganz alltägliche Dinge sein, wie die Wahl eines Restaurants oder einen andere Freizeitgestaltung.

An diesem Punkt tut sich ein weiterer bedeutender Zusammenhang auf. Denn plötzlich ist die Fähigkeit, die eigene Sexualität zu spüren, zu verstehen und die eigenen Wünsche kommunizieren zu können, eine Spiegelfläche davon, wie sehr man insgesamt mit sich selbst, mit seinen Bedürfnissen und Motiven in Verbindung steht.

Es geht darum, mit sich selbst in Verbindung und in Balance zu sein. Für Ann-Marlene Henning ist es eine der wichtigsten Grundlagen, um ein gelingendes Leben zu führen. Im März spricht sie daher erneut im humansarehappy Podcast.


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Über den Gastautor: humansarehappy schafft eine sachliche Auseinandersetzung mit der Entstehung von Wohlbefinden. Im humansarehappy Podcast spricht Leonard Gabriel Heygster alle zwei Wochen mit Menschen aus den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft oder Politik zu den Themen Wohlbefinden, Zufriedenheit und Glück. Dabei vereint er verschiedenste wissenschaftliche Sichtweisen und setzt diese in ein logisches Gesamtbild.

Das gesamte Gespräch über Sexualität mit Ann-Marlene Henning hörst du im humansarehappy Podcast.

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