Pilgern - der Zauber der langsamen Fortbewegung

Pilgern wurde in den letzten Jahren wieder beliebter - auch unter Jüngeren. Welcher Zauber liegt in der langsamsten Form der Fortbewegung? Und ist es unweigerlich mit der Suche nach Gott verbunden?

Daniela Obers

Pilgern: Was steckt dahinter?

Wie viele Menschen kennst du, die sich schon einmal auf eine Pilgerreise begeben haben? Während ich eigentlich schon immer die Ruhe, die Natur und die damit unweigerlich zusammenhängende Entspannung des Wanderns liebte, stellte ich im Laufe der letzten Jahre fest, dass ich dafür zunehmend weniger schief angeschaut wurde. Nein, die skeptischen Blicke und das “Ist das nicht langweilig?” wurden abgelöst von zustimmendem Nicken und schwärmerischen Blicken. Immer öfter kommen nun Anekdoten, die mit “Als ich auf dem Jakobsweg war…” beginnen und von Selbstsuche, Überwindung von Krisen und inspirierenden Begegnungen handeln. Die langsamste und sehr bewusste Form der Fortbewegung gewinnt an Beliebtheit. Sie wird in unserer schnellen Welt zum Zufluchtsort der Entschleunigung. Doch ist das noch Pilgern im originären Sinne? Was suchten Menschen früher auf dem Pilgerweg und was suchen sie heute? Und warum berichtet mir eigentlich jeder, der vom Jakobsweg zurück kommt, dass das eine ganz besondere Erfahrung war, die ihn nachhaltig verändert hat? Vielleicht ist der Spruch “Der Weg ist das Ziel” nicht nur ein übermäßig genutzter Kalenderspruch, sondern findet im Pilgern seine Wahrheit. Schauen wir uns das mal an.

Wer fing mit dem Pilgern an und warum?

Keine der großen Religionen kann das Pilgertum für sich allein beanspruchen, denn ob Moslem, Jude, Hinduist, Buddhist oder Christ - sie alle pilgerten und pilgern, um die Beziehung zu ihrem Gott oder ihren Göttern zu pflegen. Die Berichte von Pilgern, die auf dem Weg die göttliche Stimme, Kraft oder Energie gespürt haben, sind ebenso aus allen Religionen zu hören. Die Gläubigen nahmen bewusst den beschwerlichen Weg auf sich, um Buße zu tun oder Seelenheil zu finden. Wir sehen: Von Beginn an war tatsächlich der Weg das Ziel. Im Mittelalter entstand ein regelrechter Pilgerboom. Ob arm oder reich, jeder pilgerte. Im stark hierarchie- und standesgeprägten Mittelalter war es wahrlich selten, eine Tätigkeit zu finden, die so inkludierend alle miteinander vereinte. Der Pilgerboom ging sogar so weit, dass von weltlichen Gerichten Verurteilte ihrer Todesstrafe entgehen konnten, indem sie nach Santiago pilgerten und so Reue für ihre Tat zeigten. Pilger konnten auf dem Weg zudem kostenlos übernachten, erhielten Verpflegung und reisten zollfrei. Der eigentliche Sinn des Pilgerns ging mehr und mehr verloren und wurde gerade von Protestanten, die es mit dem Ablaßhandel verglichen, stark kritisiert und teilweise sogar verboten.

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Wer pilgert heute und warum?

Doch während die großen Kirchen dieser Welt heutzutage immer mehr Mitglieder verlieren, nimmt der Pilgertrend in den letzten Jahrzehnten wieder unaufhörlich zu. Das spricht für eine Abkopplung des Pilgerns von der Religion. Es wird mehr und mehr zu etwas spirituellem, ohne hierfür die Religion zu benötigen. Genau diesen Fakt untersuchten Prof. Dr. Julia Reuter, Professorin für Kultursoziologie und Dr. Markus Gamper, Soziologe und Diplom Pädagoge innerhalb des Forschungsprojektes “Glaube in Bewegung: Spirituelle Netzwerke von Pilgern”  der Universität Trier. Entspricht es dem Zeitgeist, wandernd auf Sinnsuche zu gehen oder gehen moderne Pilger den mühsamen Weg, um sich Gott wieder näher zu fühlen? Um das herauszufinden, wurden sie selbst zu Pilgern und wanderten 600km auf dem Jakobswegs bis nach Santiago de Compostela. Den Pilgern, die sie unterwegs interviewten, ging es um Selbstfindung, den Bruch mit dem Alltag und Sinnsuche. Klöster, Kirchen und Heiligenstatuen waren mehr Kulisse, die zum Flair des Jakobswegs passen.

Pilger gehen den Weg, um zu sich selbst zu kommen, frische Luft zu atmen und Menschen auf eine wahrhaftige Art und Weise zu begegnen. Gamper konnte beobachten, wie Pilger in eine Art Zwischenidentität schlüpfen, sobald sie sich auf den Weg machen: Sie nehmen ihre Pilgeridentität an und lassen die Alltagsrollen wie ManagerIn, Familienmensch oder Arzt/Ärztin bewusst am Start ihrer Reise zurück. In ihrer Pilgeridentität treffen sie auf dem Weg auf völlig Fremde und können sich frei entscheiden, wie sie diesen Menschen begegnen und wer sie dabei sein möchten. Sie leben gerade nicht ihren Alltag, der so stark mit der eigenen Identität verbunden ist. Sie sind ein Wanderer mit einem persönlichen Grund zu pilgern, mehr weiß das Gegenüber nicht. Und genau an dieser Stelle kann eine Begegnung an Wahrhaftigkeit gewinnen. Sowohl aus den Studienergebnissen von Reuter und Gamper, als auch aus den Berichten von Freunden, die gepilgert sind, ist die Erzählung oft die gleiche: Jeder bringt sein Thema, seine Sinnkrise, seine Fragen mit. Wenn Pilger aufeinander treffen, lautet die Frage sehr viel öfter “Warum bist du hier?” und nicht “Woher kommst du?” oder “Was machst du beruflich?”. Wer sich unterwegs Fragen stellt, die etwas bedeuten, baut auch schneller Verbindungen auf, die etwas bedeuten. Begegnungen werden schnell intensiv und oft ist von einer Ersatzfamilie auf Zeit die Rede. Der Pilger muss keinen Status beweisen oder bewahren, wie es im Alltag oft der Fall ist.

Natürlich gibt es inzwischen auch den Pilger-Massentourismus, insbesondere auf dem Jakobsweg. Organisiert wie eine Pauschalreise, bei dem du nicht einmal mehr dein Gepäck selbst tragen muss. Doch auch in diesem Punkt stellten Reuter und Gamper fest, dass es die Identität der “echten” Pilger in ihrer Gruppe zusätzlich stärkt, sich von eben jenen Pauschaltouristen gemeinsam aktiv abzugrenzen.

Als meine Freundin vom Jakobsweg zurück kam, erzählte sie mir, dass sie die Art der Begegnung vorher so noch nicht erlebt hatte. Dass sie Menschen von nun an wahrhaftiger begegnen wolle. Sicherlich ist ihr das in ihrem Alltag nicht an jedem Tag und in jeder Situation gelungen. Aber auch nur ein kleines Stückchen mehr Wahrhaftigkeit in den Alltag zu bringen, ist schon ein Gewinn. Wie wäre es zum Beispiel, neue Bekanntschaften einfach mal gar nicht zu fragen, was sie beruflich tun? Eine Antwort auf diese Frage hilft oft mehr, eine Schublade zu bedienen, als einen Menschen kennenzulernen.

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Es ist interessant und gleichzeitig verständlich, dass wir uns erst physisch auf einen Weg begeben müssen, um aus unserer Alltagsrolle zu schlüpfen. Wir suchen neue Perspektiven, die uns unsere Filterblase nicht bieten kann. Wir suchen Erfüllung in Einfachheit, nachdem wir feststellen, dass uns Luxus allzu oft auch nicht glücklich macht. Wir suchen etwas, das vor allem anders als unser Alltag ist. Darf man das denn noch pilgern nennen? So ganz ohne Gott? Nenn es doch wie du willst. Auf Sinnsuche gehen und am Ende das Gefühl haben, etwas über sich gelernt zu haben oder auch einfach neue Perspektiven in sein Leben gelassen zu haben, ist eine wertvolle Erfahrung. Für mich persönlich ist es der Unterschied zwischen dem Reisenden und dem Touristen. Der Tourist sucht Entspannung und Zerstreuung an einem anderen Ort, an dem eben nicht die eigene Bügelwäsche wartet oder die Schwiegermutter an der Tür klingeln kann. Der Reisende macht sich mit offenem Herzen auf den Weg und ist bereit, neue Perspektiven in sein Leben zu lassen. Er geht auf eine Reise, um neues zu lernen, sich auszutauschen und zu wachsen. Und die langsamste Form der Fortbewegung, getragen von Wanderstiefeln, kann helfen, das Herz zu öffnen.


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