Introversion: Der stille Mensch in der lauten Welt

In einer lauten Welt ist es gar nicht so leicht, die eigene Stimme zu hören. Insbesondere, wenn diese von eher introvertierter Natur ist. Über Lautstärke, Schneckenhäuser und Okay-sein.

Daniela Obers

Du bist ja so still

Ich weiß gar nicht, was ich unangenehmer finde. Die Begrüßungs- oder Verabschiedungssituation in großen, mir unbekannten Gruppen. Gruppen, die aus vielen, vielen lauten Menschen bestehen. Muss ich jeden einzeln begrüßen, umarmen oder – bitte nicht – mit jedem auch noch Small Talk führen? Manchmal liegt der schlimmste Teil aber auch zwischen Begrüßung und Verabschiedung, ein abendfüllender Small Talk quasi. Erschöpft und schlecht gelaunt gehe ich dann irgendwann nach Hause. Warum ich das so empfinde, hab ich mich auch lange gefragt. Anders wäre es einfacher, vor allem in einer Gesellschaft, in der laut sein mit Stärke, Mut und hohen Erfolgs- und Karrierewahrscheinlichkeiten verknüpft wird.

Die Antwort, warum die Einen oben beschriebenen Austausch energiebringend und die anderen eher energieraubend empfinden, ist das Persönlichkeitsmerkmal der Extra- und Introversion. Die beiden Typen bilden jeweils ein Extrem auf einer Skala, die die Intensität und Menge der äußerlichen Einwirkungen und Stimulation beschreibt, die wir brauchen, um uns wohl zu fühlen. Introvertierte Menschen ziehen Energie aus der Zeit mit sich alleine oder Treffen in kleinerem und vertrautem Kreis. Eher extravertierte Menschen gelten als nach Außen gewandt. Sie brauchen den Austausch in der Gruppe, um Energie zu schöpfen. Sind sie zu lange mit sich selbst allein, so fühlen sie sich leer und ausgesogen. Diese Unterscheidung der Persönlichkeitstypen ist kein neues Phänomen. Sie entstammt der Arbeit des Psychiaters C.G. Jung von 1921, der so die nach Innen oder nach Außen gekehrten Menschen beschrieb. Man geht davon aus, dass circa ein Drittel der Bevölkerung eher dem introvertierten Spektrum zuzuordnen ist.

In der Realität bewegen wir uns alle irgendwo auf dieser Skala und sind auch hier nicht statisch. Nein, je nach Umfeld, Situation und Stimmungslage bewegen wir uns auf der Skala mal ein bisschen mehr in Richtung Introversion oder Extraversion, auch wenn wir meist eine Tendenz zu einem der beiden Extreme haben. Von Kindheit an kann ich mich an viele eher intro- oder extravertierte Situationen erinnern – je nachdem ob mir das Umfeld oder die Aktivität vertraut war, ich die Menschen mochte und wie viel Lautstärke mich an diesem Tag schon umgeben hatte. Wir sind stets geprägt von dem Umfeld, in dem wir uns gerade bewegen. Und so kann auch ein Persönlichkeitsmerkmal niemals isoliert betrachtet werden. Es ist sowohl genetisch, als auch durch unser Außen bedingt.

Introversion wird schnell mit Schüchternheit gleichgesetzt. Ja, beide Merkmale können gemeinsam auftreten und sich bedingen, müssen es aber nicht. Susan Cain beschreibt es in ihrem Buch “Still – die Kraft der Introvertierten” so: “Hinter Schüchternheit steckt die Angst, von anderen abgelehnt oder gedemütigt zu werden, während Introversion nach innen gerichtete Aufmerksamkeit ist. Schüchternheit tut grundsätzlich weh, Introvertiertheit nicht.” Während Schüchternheit also oft mit einem Leidensdruck oder zumindest dem Wunsch, es wäre anders, verbunden ist, ist Introversion die Beschreibung der Art und Weise, wie wir Kraft tanken können und uns wohl fühlen. Der Grund, warum beide Merkmale selbst von eher Introvertierten Menschen so oft undifferenziert in einen Topf geworfen werden, ist die Tatsache, dass introvertiert sein in unserer Gesellschaft in den meisten Kontexten als weniger erstrebenswert als die Extraversion eingestuft wird. Inmitten einer lauten Gesellschaft ist schon eine Aufgabe an sich, mit der eigenen Introversion okay zu sein. Extravertierten Menschen fällt es leichter, in einer großen Gruppe Gehör für ihre Ideen zu finden. Durch lautes und selbstbewusstes Auftreten wirken sie oft kompetenter und auch Führung wird ihnen eher zugetraut. Intros werden häufig nicht nur als still, sondern auch als farblos beschrieben.

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Sollten wir alle unsere Extraversion trainieren?

Lassen wir mal die gesellschaftliche Bewertung außen vor, stellt sich trotz dessen die Frage: Ist der eine Persönlichkeitstyp besser als der andere? Nein, beide sind okay. Denn beides ist menschlich. Und beide können dann optimal wirken, wenn sie einander anerkennen und zusammenarbeiten. Dass dem so ist, zeigt auch die Forschung. Bei eher introvertierten Menschen ist der frontale Kortex aktiver und stärker durchblutet, welcher unter anderem für Planung, Erinnerung und Problemlösung zuständig ist, also eher nach innen gerichtete Vorgänge. Bei Extravertierten sind die Gehirnareale aktiver, die Sinneseindrücke wie Sehen und Hören verarbeiten. Sie reagieren schneller auf ihre Umwelt. Kombinieren wir das in der Theorie, um z. B. gemeinsam ein Problem zu lösen, so wird dabei am ehesten eine durchdachte Lösung herauskommen, die dann auch schnell in die Umsetzung gehen kann. In der Realität stellt sich dann nur häufig die Lösungsfindung als die größte Herausforderung dar. Denn wer leise ist, wird mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit eine Stimme in der Diskussion finden. Brainstormings und Diskussionen in großen Gruppen sind für Introvertierte eher eine Belastung. Insbesondere, wenn sie sich ständig Gehör verschaffen müssen. Susan Cain beschreibt in ihrem Buch anschaulich, wie auch sie ihren Weg aus einer extravertiert-geprägten Arbeitsumgebung in ein für sie passendes Umfeld gefunden hat. Nicht jedes Arbeitsumfeld passt zu jedem Menschen. Es ist wichtig, das für sich selbst zu erkennen. Und gleichzeitig lohnt es sich, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse, die wir für ein gutes Arbeiten brauchen, offen anzusprechen und damit Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse zu übernehmen. Es muss ja nicht im Teammeeting vor der versammelten Gruppe sein. Eine gute Führungskraft sollte hierfür aber ein offenes Ohr haben und gemeinsam Strategien erarbeiten, wie sich alle im Team wohlfühlen und wirken können.

Der Intro und das Corona-Schneckenhaus

Kein Großraumbüro, wenig Smalltalk, dafür aber viele Möglichkeiten, um in Stille zu arbeiten: Die Lockdown-Zeiten von Corona hatten insbesondere für introvertierte Menschen auch Vorteile. Auch im privaten Bereich gab es weniger oder keine großen und lauten Events mit vielen Menschen. Wem nicht nach Austausch war, der konnte einfach Zuhause bleiben. Und zwar ohne schlechtes Gewissen und Schuldgefühl. Auch ich merkte in dieser Zeit, dass ich entspannter war. Das gesellschaftliche Hamsterrad empfand ich vorher als Normalität, an der man wohl einfach so teilnimmt. Teilnahme an Normalität. Tut man das nicht, ist man ja auch nicht normal. Wer will das schon? Getrieben durch die Vorsicht, blieben wir ja aber alle viel Zuhause. Über die erste Phase fühlte sich das tatsächlich angenehm an.

Spätestens in diesem Sommer, Infektionszahlen hin oder her, ist das soziale Leben wieder in einer fast allbekannten Fülle angekommen. Für viele Introvertierte ist es eine neue Herausforderung, wieder in dieses Leben einzutauchen. Doch ist es langfristig eine Option, das einfach nicht zu tun? Nein, denn ganz egal ob Intro oder nicht, der Mensch braucht den sozialen Kontakt für die mentale Gesundheit. Ein stabiles, soziales Netzwerk ist einer der Schutzfaktoren für Resilienz. Wollen wir eine psychische Widerstandskraft bei Krisen beibehalten oder trainieren, so ist ein ausgewählter Kreis an uns vertrauten Menschen eine wichtige Quelle dafür. Dabei kommt es allerdings nicht auf die Anzahl der Kontakte, sondern auf deren Qualität an. Soll heißen: Ja, liebe Intros, ab und an dürfen wir auch aus unserem Schneckenhaus heraus. Die Art und Weise wie wir soziale Zeit verbringen, ist jedoch herrlich mannigfaltig. Dr. Sylvia Löhken, Kommunikationsexpertin für Intro- und Extravertierte erwähnt beispielsweise das hohe Maß an zwischenmenschlichem Einfühlungsvermögen bei Intros und daraus resultierende tiefgehende Gespräche als eine der Formen von sozialer Interaktion, die auch uns Energie geben. Auch für mich ist ein Abend mit engen Freunden, der mit guten Gesprächen gefüllt ist, definitiv ein Energiegeber. Es ist wichtig, stabile und vertraute Beziehungen zu haben und diese zu pflegen, denn damit pflegen wir auch uns selbst.

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Lass mir doch meine Ruhe!

Das Leben geht in der viel erwähnten neuen Normalität weiter. Und ich kann die Zeiten, in denen ich mich bewusst für Aktivitäten mit Menschen entscheide, ganz neu wertschätzen. Denn ich habe gemerkt, welches Maß mir gut tut und welche Menschen mir gut tun. Und wie sehr mir mein ganz selbst gewähltes Maß an Alleine-Zeit gut tut. Ohne schlechtes Gewissen den Freitagabend mit mir und meinem Buch zu verbringen und mich dann auf einen Samstag mit zwei lieben Freundinnen zu freuen: Das ist meine neue Normalität. An einem Abend in einer großen Gruppe muss ich gar nicht mit jedem reden. Das saugt mir Energie aus. Sowohl die Erwartung an mich selbst, als auch das Gesprächs-Hopping an sich. Wenige, gute Gespräche mit Menschen hingegen, geben mir Energie. So macht auch die WG Party Spaß.

Überfüllte Bahnen, marktschreierisch laute Menschen und Smalltalk kann ich nach wie vor - oder sogar noch ein bisschen weniger - leiden. Und das ist voll okay.

Wer noch mehr über das Thema Introversion erfahren möchte, dem kann ich das hier viel zitierte Buch “Still” von Susan Cain empfehlen. Cain zeigt auf informative und gleichzeitig inspirierende Weise die Bedeutung introvertierter Menschen in unserer Gesellschaft auf. Und auch Dr. Syliva Löhnken hat drei Bücher über Introvertierte und den Umgang zwischen Intro- und Extravertierten veröffentlicht, die inzwischen in 30 Sprachen übersetzt wurden.

Das Thema entwickelt seine eigene Form von Lautstärke. Es könnte unserer Gesellschaft gut tun.

Foto: Maggie Zhan auf Pexels

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