Balance durch Atem-Achtsamkeit – die Wissenschaft des Atems

Zahlreiche Traditionen nutzen die Atempraxis und auch in der Meditation spielt er eine große Rolle. Was macht den Atem so besonders? Das sagt die Wissenschaft zur Wirkung von bewusstem Atmen.

Von Siri Frericks

Science Snack #3:


Alles atmet – ein Leben lang

Ein chinesisches Sprichwort, etwa aus dem 8. Jahrhundert n. Chr., besagt: "Die Gestalt hängt vom Atem (ch'i) ab und der Atem wiederum von der Gestalt. Wenn der Atem vollkommen ist, dann auch die Gestalt." Ganze sieben Bücher des chinesischen Tao (400 v. Chr.) befassen sich ausschließlich mit der Atmung und damit, wie sie eingesetzt werden kann. Indische Traditionen hielten Atem und Geist für identisch und gingen davon aus, dass die Atmung dabei helfe, körperlich und geistig gesund und in Balance zu bleiben. Buddhist:innen nutzen sie seit Jahrhunderten, um das Leben zu verlängern und das Bewusstsein zu erweitern. Zahlreiche spirituelle und naturverbundene Kulturen nutzen Atmung als wichtige Medizin [1].

Aber was ist Atmung überhaupt? Die Luft, die in unsere Körper ein- und ausströmt besteht zu etwa 78% aus Stickstoff, zu ca. 21% aus Sauerstoff und enthält kleine Anteile anderer Gase. Jeden Tag atmen wir etwa 20.000 Mal. Bei jedem dieser durchschnittlich 2-3 Sekunden dauernden Atemzüge, nehmen wir ca. einen halben Liter Sauerstoff auf. Was die Atmung besonders macht, ist, dass sie die einzige lebenswichtige Funktion des Körpers ist, die sowohl unbewusst und automatisch abläuft, als auch von uns gesteuert werden kann. Das Herz schlägt, wie es schlägt... Der Darm verdaut, wie er verdaut... Zwar können wir auch ihre Funktionen beeinflussen, doch das geht nur indirekt: über die Atmung. Ihre Einflussbereiche im Körper sind zahlreich:

  • Sie ist an der Freisetzung von Adenosintriphosphat (ATP) in den Mitochondrien beteiligt und damit an der Energieproduktion unserer Körper.

  • Sie beeinflusst unsere körperliche und mentale Leistungsfähigkeit und hat damit unter anderem Einfluss auf das Gedächtnis.

  • Sie reguliert Vitalfunktionen, wie den Herzschlag, die Verdauung und den Stoffwechsel mit.

  • Über die Atmung wird auch der Blut pH-Wert, also unser Säure-Basen-Haushalt reguliert. Das Lymphsystem - als wichtiger Teil des Immunsystems - wird angesprochen und auch die Prozesse im Gehirn werden von ihr beeinflusst.

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Mit der Atem-Achtsamkeit zum Gleichgewicht

Wer mit der 7Mind-App meditiert, hat vielleicht schonmal die Atemübungen entdeckt. Die achtsame Beobachtung des Atems ist inzwischen innerhalb verschiedenster Kontexte naturwissenschaftlich untersucht worden. Sie kann sowohl als Meditation praktiziert werden, wie auch als Achtsamkeitsübung im Alltag. Den Atem haben wir immer dabei, können ihn stets beobachten und dadurch womöglich etwas Anspannung loslassen und Gleichgewicht einladen.

Die Forschung zu Atem-Achtsamkeit

Befinden wir uns in einer achtsamkeitsbasierten Atemmeditation, kann das unsere Gehirnaktivität beeinflussen. Die im EEG beobachtbaren Wellen verlangsamen sich zu sogenannten Alpha-Wellen, was für die Meditierenden mit einer erhöhten Fähigkeit zur Selbstbeobachtung einhergehen kann [2]. Auch das Maß unserer Reaktion auf wiederkehrende Gedanken kann durch das Training von Atemachtsamkeit abnehmen. Im Vergleich zu anderen Techniken, wie der progressiven Muskelentspannung oder Meditationen zur liebenden Güte, fördert sie insbesondere auch unsere Fähigkeit zur Dezentrierung [3]. Darunter wird in der Psychologie das Loslösen von einer egozentrischen Perspektive beschrieben [4]. Wir drehen uns in Gedanken also weniger um uns selbst, sondern werden im Denken flexibler. Forscher:innen sehen darin einen Vorteil der Atemachtsamkeit gegenüber anderen Methoden - vor allem im Hinblick auf ihren Einsatz im Stress-Management [3].

Eine andere Studie legte ihren Fokus auf die Zusammenhänge von Atem-Achtsamkeit und Emotionsregulation. In ihrer Untersuchung nahmen sie die Prozesse im Gehirn dabei besonders unter die Lupe. Dem Atem bewusst zu folgen, zeigte sich dabei als effektiv, um schwierige Emotionen zu regulieren [5]. Auf der neuronalen Ebene wurde die Verbindung von Amygdala und präfrontalem Kortex erhöht. Es fand sozusagen mehr Kommunikation statt zwischen emotionsrelevanten Kerngebieten und den steuerungs- und handlungsorientierten Netzwerken. Durch das erhöhte Bewusstsein über eigene Denkprozesse (Metakognition), das mit dem Training von Atem-Achtsamkeit einhergehen kann, veränderte sich auch die Impulskontrolle. Dieses Bewusstsein kann dazu beitragen, dass gesundheitsförderliche Verhaltensweisen unterstützt werden. Eher schädliche, impulsive Verhaltensweisen, wie Substanzmissbrauch oder Over-Eating werden indessen gehemmt [6].

Was kann diese Zusammenhänge erklären?

Forschende der niederländischen Universität Leiden haben sich dieser Fragestellung gewidmet und den Vagusnerv in den Mittelpunkt ihrer Überlegung gerückt [7]. Er ist der größte Nerv unseres inneren Erholungssystems (Parasympathikus) und beteiligt an Prozessen beinahe aller innerer Organe. Abgeleitet vom lateinischen vagari, bedeutet sein Name etwa umherschweifender Nerv. Schaust du dir anatomische Bilder von ihm an, wird schnell klar, warum er diesen Namen trägt. Denn er zieht seine Bahnen in weiten Gebieten unseres Körpers.

In ihrer Auseinandersetzung zeigen die Forschenden eine wesentliche Gemeinsamkeit kontemplativer Praktiken, wie Meditation, auf: der Atem wird achtsam beobachtet, (un-) bewusst reguliert oder aufmerksam gesteuert. Dieser Umgang mit dem Atem könne das innere Gleichgewicht feingliedrig beeinflussen und damit körperliche und mentale Vorteile solcher Praktiken erklären. Denn nach dem neurophysiologischen Modell der Wissenschaftler:innen, stimulieren wir durch spezifische Atmungsstile den Vagusnerv, der wiederum Verbindungen zu anderen Körpersystemen hat. Er steht mit Blutdruck, Herzratenvariabilität und Entzündungswerten in Kontakt. Auch mit dem Sympathikus, der hormonellen Stressachse und dem Gehirn-Netzwerk für Emotionen, Antrieb, Entspannung, Planung, Handlung oder Aufmerksamkeit, steht er in Beziehung.** Durch seine zahlreichen Verknüpfungspunkte und Einflussbereiche kann er auf die Selbstregulation, auf Gedanken, Emotionen, Stress und Gesundheit einwirken.** Aufgrund dieser Vernetzung halten ihn die Forschenden für einen Hauptkandidaten für eine mögliche Erklärung der Auswirkungen kontemplativer Praktiken, wie Meditation. Insbesondere, wenn es um die körperliche und psychische Gesundheit und die Kognition (Denken) geht.

Wenn dieser Science Snack dich dazu inspiriert hat, dich tiefer mit Atemmeditationen zu beschäftigen, schau doch mal in der 7Mind-App vorbei. Dort findest du unterschiedlich lange Übungen zur Atemachtsamkeit, die von unseren Sprechenden Dorothea und Paul angeleitet werden.


Die Podcastfolge zum Artikel:


Über unsere Science Snacks: Unsere Psycholog:innen von 7Mind versorgen uns im Format "Science Snack" regelmäßig mit den neuesten Erkenntnissen aus der Wissenschaft, rund um Psychologie, Achtsamkeit und Meditation. Alle Science Snacks findest du hier.


Literatur:

[1] Nestor, J. (2020). Breath. Atem - Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atmens. Piper Verlag GmbH, München 2021: S. 15, 63-77, 83, 113, 130, 181-183. [2] Bing-Canar, H., Pizzuto, J., Compton, R.J. (2016). Mindfulness‐of‐breathing exercise modulates EEG alpha activity during cognitive performance. Psychophysiol, 53: 1366-1376. [3] Feldmann, G., Greeson, J., Senville, J. (2010). Differential effects of mindful breathing, progressive muscle relaxation, and loving kindness meditation on decentering and negative reactions to repetitive thoughts. Behav Res Ther. 2010; 48(19):1002-1011. [4] Wirtz, M.A. (Hrsg.). (2014). Dorsch - Lexikon der Psychologie. 17. Auflage. Verlag Hand Huber, Redaktion Dorsch, Bern: S. 391: Dezentrierung. [5] Doll, A., Holzel, B., Bratec, S.M., Xie, X. (2016). Mindful attention to breath regulates emotions via increased amygdala-prefrontal cortex connectivity. NeuroImage, 2016. [6] Pozuelos, J.P., Mead, B.R., Rueda, N.R., Malinowski, O. (2019). Short-term mindful breath awareness training improves inhibitory control and response monitoring. Progress in Brain Research, 244: 137-163 [7] Gerritsen, R.J.S., Band, G.P.H. (2018). Breath of Life: The Respiratory Vagal Stimulation Model of Contemplative Activity. Front. Hum. Neurosci., 2018

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