Wenn Kinder das Haus verlassen: Eine Beziehung im Umbruch

Erwachsen werden ist nicht leicht. Es kommt zu Streitigkeiten, Diskussionen und Enttäuschungen. Wie können sich Eltern und Kind verhalten, wenn sich die Beziehung plötzlich wandelt?

Von Sarah Schömbs

Das Smartphone leuchtet auf. Schon wieder eine Nachricht von „Mama Home“, die sehnlichst nach ihrem Baby verlangt. „Ich vermiss dich, kommst du am Sonntag zum Familienessen nach Hause?“. Zack, da durchfährt es einen. Das schlechte Gewissen. Am Wochenende war doch diese große Party und außerdem ist der Weg zurück in die Heimat ganz schön weit. Doch kann man der eigenen Mutter aufgrund einer Party absagen? Schließlich ist es kein Notfall, kein Geburtstag, kein Klausurtermin oder ein anderer triftiger Grund, den die Eltern verständnisvoll abnicken und in Kauf nehmen würden.

Das Nest verlassen

Erwachsen werden ist nicht leicht - weder für Eltern noch fürs Kind. Zwischen Heimweh, Schuldgefühlen und Freiheitsdrang weiß kaum jemand wie es geht, dieses „erwachsen werden.“ Es existiert kein Verhaltenskodex, kein Regelwerk, kein „How to become an adult for dummies.“ Während noch vor gar nicht so langer Zeit Zeremonien wie die Kommunion, Jugendweihe oder Konfirmation die Zeit des „Erwachsenseins“ einläuteten, verschwimmen heute die Grenzen.

Es existiert kein „ab heute bis du eine erwachsene, junge Frau/junger Mann“- Zeitpunkt. Vielmehr herrscht ein Mischmasch aus Ausbildung, FSJ, Auslandsjahr oder Studium und keiner weiß so recht, wie man sich zu verhalten hat. Ist man erwachsen, wenn man sich aufgrund des teueren Studiums dafür entscheidet, zu Hause wohnen zu bleiben? Wessen Regeln gelten dann? Was macht einen offiziell „erwachsen“? Geistige Reife oder räumliche Eltern-Kind-Distanz? Ist man erst ab dem Zeitpunkt der eigenen Familiengründung vollkommen erwachsen? Was, wenn man aber gar keine eigenen Kinder möchte?

4 Impulse, um gemeinsam zu wachsen

Liebe ist kein Tauschgeschäft - auch nicht die Liebe zwischen Eltern und Kind. Das ist wichtig zu verstehen, denn auch wenn die Eltern lange für ihr Kind sorgen und es auch nach dem Auszug noch finanziell und emotional unterstützten, sollte es sich nicht um eine Leistung handeln, die eine Gegenleistung verlangt. Weder Kinder noch Eltern müssen dauerhaft füreinander erreichbar sein, dürfen sich zwischendurch auch mal nur auf sich besinnen und können mit dem Herzen einander verpflichtet sein und trotzdem getrennte Terminkalender haben.

Die Philosophin Barbara Bleisch hat sich in ihrem Buch “Ein Kind ist keine Vorsorge” ausführlich mit dem Thema befasst und beschreibt eine Idee, die viele Kinder haben: dass sie ihren Eltern etwas schulden - inklusive ihrer Zeit. Dabei darf man Familienfeiern oder das gemeinsame Kaffeetrinken auch mal absagen, ohne das die Liebe zu den Eltern anschließend infrage gestellt wird. Wir haben vier Impulse gesammelt, die den Prozess der Abnabelung unterstützen können.

1. Verantwortung und Achtung des anderen

Laut Erich Fromm ist das Verantwortungsgefühl ein Aspekt der Liebe. Mit Verantwortung ist jedoch weniger eine Pflicht gemeint, sondern vielmehr „etwas völlig Freiwilliges. (...) [Die] Antwort auf die ausgesprochenen oder auch unausgesprochenen Bedürfnisse eines anderen menschlichen Wesens. Sich für jemanden „verantwortlich“ zu fühlen, heißt fähig und bereit zu sein, zu „antworten“.“

In einer Eltern-Kind-Beziehung geht es bezüglich der Verantwortung in den ersten Lebensjahren vor allem darum, für das Kind zu sorgen und Bedürfnisse wie Nahrung, menschliche Nähe und Wärme zu stillen. Später kann dieses Verantwortungsgefühl laut Fromm schnell dazu führen, das umsorgte Kind kontrollieren zu wollen. Doch hier liegt der Irrtum, denn ein weiterer Aspekt des Verantwortungsgefühls ist die Achtung vor dem anderen.

In Fromms Worten: „Jemanden so zu sehen, wie er ist.” Genau dieser Aspekt ist im Prozess des Erwachsenwerdens so wichtig. Wenn das Kind anfängt, auf seinen eigenen Beinen zu stehen und die Eltern nicht mehr zum Überleben braucht, sollten Eltern achtsam sein, die eigenen Werte nicht auf das Kind zu projizieren und die eigenen Vorstellungen loszulassen. Viele Streits entstehen, wenn die Berufswahl des Kindes von den Idealvorstellungen der Eltern abweicht.

Dabei geht es vor allem darum, das Kind zu begleiten und Hilfestellung zu leisten, wo es nötig ist. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, Grenzen zu setzen und sich da rauszuziehen, wo es möglich ist. Wenn das Kind aus Freude am Studieren den dritten Bachelor beginnt, kann man sich durchaus darüber unterhalten, ob eine finanzielle Unterstützung weiterhin angebracht ist.

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2. Neue Rollen definieren

Wenn es darum geht, erwachsen zu werden, kommt es zu einer Neuverteilung der Rollen. Das Kind bleibt zwar immer noch Kind, nichtsdestotrotz werden die Rahmenbedingungen neu gesteckt. Sowohl Eltern als auch Kinder sollten offen für eine Umgestaltung der Beziehung sein. Alte Rollen und Regeln werden abgelegt und neu definiert.

Die Geschirrspülmaschine auszuräumen gehörte vielleicht zu der Aufgabe des Kindes, während es noch zu Hause wohnte. Kommt es ab jetzt nur noch zu Besuch, bedeutet das nicht, dass es automatisch in diese Rolle schlüpfen und die alten Regeln befolgen muss - es ist nun Gast im Hause der Eltern. Das schließt natürlich nicht aus, dass der Tisch gemeinsam abgeräumt werden kann. Die Intention ist aber eine andere, denn hier existiert eigentlich keine Verpflichtung mehr. Umgekehrt kann es für das Kind bedeuten, nicht wie selbstverständlich mit dem Zweitschlüssel durch die Tür zu platzen, sondern zu klingeln oder vielleicht auch etwas zum Abendessen mitzubringen, wenn ins Elternhaus eingeladen wurde.

Das sind zwar nur Kleinigkeiten, sie können aber dazu beitragen, dass beide Seiten der alten Rolle entwachsen und sich trotzdem zusammen wohlfühlen.

3. Hilfe annehmen

Erwachsenwerden ist ein Prozess. Man steht nicht eines Morgens auf, ist reif, selbstständig und hat die Weisheit mit dem Löffel gefressen. Hier und da wird man trotzdem noch Hilfe benötigen, sich Dinge erklären und zeigen lassen wollen. Einmal aus dem Haus erleben Kinder häufig einen kleinen Höhenflug und wollen sich plötzlich nichts mehr sagen lassen. Auch das ist eine wichtige Phase. Irgendwann wird sie verfliegen und man wird sich bewusst, dass man von den Erfahrungen der Älteren profitieren kann. Dann kann man sein Ego beiseite schieben, denn man ist schließlich kein Krieger auf dem einsamen Pfad des Älterwerdens.

Eltern können in dieser Zeit weiterhin ihre Unterstützung anbieten, die Hand reichen und das Signal geben, dass sie da sind, wenn etwas ist. Sie müssen aber wahrscheinlich auch akzeptieren, dass sie eventuell nicht mehr die erste Anlaufstelle sind, wenn das Kind Probleme hat. Auch wenn es schwer fällt und sich erstmal komisch anfühlt, so kann es langfristig dabei helfen, loszulassen und den Fokus wieder zu sich zurück zu holen.

4. Miteinander sprechen

So langweilig es auch klingen mag, Kommunikation ist wie immer das A und O. Auch im Prozess des Erwachsenwerdens. Schließlich stehen sowohl Kinder als auch Eltern vor einer neuen Situation. Die Eltern sehen sich mit Verlustängsten konfrontiert und mit der Challenge, loszulassen. Das Kind sieht sich vor der Aufgabe, den Alltag allein und unabhängig zu meistern - eigene selbstständige Erfahrungen zu machen, ohne den ständigen Schutz der Eltern und doppelten Boden.

Genau hier ist es wichtig, offen und achtsam mit seinen Gefühlen und Gedanken umzugehen. Wann ist es zu viel, wann zu wenig? Wo ist mehr Freiraum notwendig, wann fühlt man sich in eine alte Rolle gedrängt? Möchte man täglich miteinander telefonieren oder fühlt sich eine Seite irgendwann genervt? Es kommt der Punkt, an dem beide Seiten intuitiv spüren, dass alles getan ist, dass keiner dem anderen irgendetwas schuldet - auch keine Zeit. Wenn man als Elternteil unbedingt zu Besuch in die neue Wohnung kommen möchte oder den neuen Partner kennenlernen will, darf das Kind bestimmt und freundlich “Nein” sagen.

Übrigens: ein “Ich vermisse dich” kann Balsam für die Seele sein. Aus den Augen heißt schließlich nicht aus dem Sinn.

Das Erwachsenwerden ist ein gemeinsamer Prozess. Die größte Herausforderung besteht darin, die Balance zwischen Bindung und Autonomie zu finden und diesen Raum dazwischen gemeinsam zu gestalten. Erwachsenwerden bedeutet nicht, nie wieder den Rat bei Papa einzuholen, oder nie wieder nach einer Trennung tränenverströmt auf der Couch bei Mama zu liegen und über den Ex zu schimpfen. Es bedeutet, den Weg hin zu einem eigenständigen Leben zu unterstützen, Fehler zu ermöglichen, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger zu gestikulieren, und Vertrauen zu schenken. Oft hilft es bereits, die Perspektive zu wechseln und sich in die andere Seite hineinzuversetzen.

Abnabelung bedeutet nicht Verlust der Beziehung sondern Umgestaltung, um sie für die Zukunft überlebensfähig zu machen. Das bedeutet Arbeit, sowohl für das Kind als auch für die Erwachsenen.

Die Podcastfolge zum Impuls der Woche:


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